Sieht so aus, ich fahre doch wieder hinaus, das hat Paula nun davon,
soll sie doch sehen wo sie bleibt...
20. Februar 1885 15.00
Jetzt muß ich einfach aufschreiben, was gestern abend geschah.
Die Sache treibt mich um und um. Einerseits sehr reizvoll, andererseits
sich nicht ohne Gefahren. Aber vielleicht gerade das richtige, nachdem
Paula...
Aber nein, um meine Gedanken zu sammeln, schreibe ich alles von Anfang
an auf - und werden es nur einige angefangene Seiten, wen schert's!
Gestern abend ging ich direkt von der Morgue in den Stiefelknecht.
Es gab keinen klaren Grund außer den üblichen: Maux de Coeur
wegen Paula und Ärger mit Brunshagen, der wieder seine übliche
Schwindsucht-Paranoia hat: der letzte Tote sei ein klassischer Fall im
Endstadium gewesen. Zugegeben, nach den Lungenschnitten hätte es sein
können, aber ich hatte mich schließlich mit der Frau unterhalten:
Kein Bluthusten, kein Gewichtsverlust, kein monate- oder jahrelanges Siechtum.
Stattdessen aus Wohlbefinden hohes Fieber, Atemnot, eitriger Auswurf, ein
Tag Delir, batz, tot. Der Mann ist an einer simplen Pneumonie gestorben!
Die Frau war mir dankbar, als ich statt Schwindsucht Lungenentzündung
sagte, die sah sich auch schon dahinwelken. Aber Brunshagen versteht es
nicht mehr mit den Leuten zu reden, kein Wunder, wenn man dreißig
Jahre in Leichen wühlt. Ich muß da weg.
Gleichgültig, jedenfalls ging ich in dieser Stimmung in den Stiefelknecht.
Nicht die nächste Kneipe, aber gleich ums Eck berät die Internationale
Kongo-Conferenz. Es läuft darauf hinaus, daß Leopold von Belgien
die Kontrolle über den Kongo erhält und ich hoffte auf andere
Ablenkung als über ihre Weiber fluchende Schuster und prahlende Studiosi
oder aber Honoratiores, die über den Schraubgewindemarkt diskutieren
oder wiederum halbgebildete Jünger der Irrlehren von Marx. Ich trat
also ein und voila, die gesuchte Gesellschaft stand schon an der Theke.
Zwei Bären von Männern und ein etwas Schmalerer, jeweils Bier
und Korn vor sich, nach Haut und Gewand einer ein Seemann und die
anderen irgendetwas nur sehr mäßig vertrauensweckendes, gerade
das Richtige für meine Stimmung. Danebengestellt, übers Bier
kommt man ins Gespräch, ich weiß ja, wie Seefahrer denken. Es
waren Belgier, Kees, ein Flame, zwei Wallonen, Jerôme Gunnet und
Le Cul. Einen anderen Namen nannte er nicht. Nur einer von ihnen konnte
einigermaßen Deutsch, der Seemann, ist auch auf deutschen Schiffen
gefahren. Mein Französisch ist zum Glück noch recht frisch erhalten,
die paar Brocken Holländisch reichten wenigstens zum Verstehen, denn
der Flame hatte sein Französisch schon halb versoffen, obwohl es noch
früh war. Habe gleich mit meinen eigenen Fahrten als Schiffsarzt angefangen,
bewusst nicht dick aufgetragen, damit die anderen mich toppen können.
Konnten sie allerdings wirklich, wenn man von ihren Geschichten die Hälfte
für die übliche Garnspinnerei und noch ein Quart für den
Alkohol abzog, blieb noch genügend übrig. Wobei der Seebär
am meisten Substanz bot. Er ist und das war natürlich ein Glückstreffer,
mit Henry Morton Stanley selbst gefahren. Ich habe ihm einen Haufen Fragen
gestellt und es scheint ihm gefallen zu haben, mal wieder mit jemand zu
reden, der einerseits was von der See versteht (habe ich mir in 3 ½
Jahren ja auch sauer verdient) und andererseits doch noch ein bisschen
mehr weiß. Nachher bekam ich heraus, daß noch mehr dahinter
steckte. Er machte den ganzen Abend schon solche Andeutungen, von Kees
meist mit finsteren Blicken und von Le Cul mit nervösem Kichern beantwortet.
Ich habe ihm mehrfach nachschenken lassen und es hat mich eine ganze Stange
Geld gekostet, weil die anderen auch immer noch un autre brauchten, bis
er endlich mit seiner Geschichte herausrückte.
Jerôme ist zweimal im Kongo unterwegs gewesen, davon einmal mit
Stanley. Auf der zweiten Fahrt machten sie, schon weit kongoaufwärts,
in einem Dorf halt, um Lebensmittel gegen Messing und Stoffe zu tauschen.
Den Namen hat Jerôme vergessen, er hat mir den Namen eines Seitenflusses
genannt - den habe wiederum ich vergessen; gleichviel, es macht keinen
Unterschied. Jerôme hatte da schon ziemlich viel Erfahrung mit Negerweibern,
er meinte, sie seien auch nicht anders als andere Frauen, außer daß
man sich etwas fühle wie auf einem Rauhaardackel. Es gelang ihm ohne
weiteres, für einige getrockene Seepferdchen mit ihr in einer leeren
Hütte zu verschwinden, von denen es offenbar einige im Dorf
gab.
Auf die Seepferdchen war er ziemlich stolz; er meinte, als Maat sei
ihm der Glasperlenbeischlaf den einfachen Matrosen zuwider. Beischlaf ist
Beischlaf dachte ich, aber gut, für einen Seemann trotzdem schon categorie
supérieur; er war schon zurecht Maat, denke ich.
Einige Wochen hernach kamen sie auf dem Rückweg wieder in das
Dorf und Jêrome fragte nach dem Mädchen, hatte auch schon eine
große Muschel parat, die er ihr schenken wollte und auf die er in
den vergangenen Tagen sogar ihren Namen eingeritzt hatte. (Den sie ohnehin
nicht hätte lesen können, dachte ich, aber c'est la geste qui
compte.) Sie war aber nicht aufzutreiben. Er dachte erst, sie hätte
vielleicht einen Liebhaber gehabt, der ihre amourösen Eskapaden nicht
schätzte und sie deshalb wegsperrte. Deshalb fragte er sich durchs
Dorf, wurde aber rasch misstrauisch. Man sagte ihm nämlich nicht,
daß das Mädchen nicht da sei, sondern leugnete, daß es
jemals existiert habe. Weder Drohungen noch Geschenke brachten ihn weiter.
Schließlich - und Jerôme betonte, wie ungewöhnlich geduldig
er gewesen sei, da es wirklich ein besonderes Negermädchen war - schnappte
er sich einfach einen der Neger, prügelte ihn windelweich und ließ
ihn mit vorgehaltener Pistole ausfragen. Der hätte nun auch einiges
gesagt in seiner klingenden Negersprache, nun aber hielt sich der Übersetzer,
einer der Bantuheizer, ganz bedeckt und rückte seinerseits kaum etwas
heraus. Jerôme hielt an sich, ging mit ihm aufs Schiff, versetzte
ihm einen tüchtigen Schnitt in den Schenkel und band ihn an der Achtersteven,
so daß sein Blut ins Wasser tropfte. Aus Angst vor Crocodilen sei
de Wilde nun plötzlich sehr gesprächig geworden - und natürlich
wusste er etwas. Sein Negermädchen sei zu dem "zornigen Gott" Mbene
k'Ulumbo gegangen, der im Herzens des Waldes auf einem Berg aus Schädeln
und Elefantenbein warte. Von dort würde niemand zurückkehren.
Unzufrieden nahm sich Jerôme schließlich eine andere Negerin,
die aber nicht halb so gut gewesen sei.
Auf dem weiteren Weg flussabwärts fragte er an jedem Halt nach
Mbene k'Ulumbo. Der Begriff sei überall bekannt gewesen, jedoch waren
die Neger durchweg verstockt und widerspenstig. Manche ließen sich
lieber halb totschlagen, als etwas zu verraten, aber von andern habe er
doch etwas erfahren - nie durch Geschenke, stets durch Drohungen und Züchtigungen.
Es schien aber so, als würden fast alle Dörfer am oberen Kongo
Menschen und Reichtümer ins "Herz des Waldes" schicken. Bei einem
Neger fand sich eine elfenbeinernes Statue mit sehr merkwürdigen Motiven,
die er angeblich nach einem Traum vom zornigen Gott gefertigt hatte. Jerôme
nahm sie ihm weg.
Der Bantu-Heizer schien von Übersetzung zu Übersetzung immer
ängstlicher zu werden und ließ sich nur durch wiederholte Prügel
bändigen. Jerôme hatte den Eindruck, daß er nicht immer
alles übersetzte. Weiter flußaufwärts wussten aber auch
die Eingeborenen selbst immer weniger zu sagen und etwa zehn Tagesreisen
flußabwärts stieß der Begriff Mbene k'Ulumbo erstmals
auf gänzliches Unverständnis selbst nach einer tüchtigen
Ration Stockhiebe.
Jerôme grinste bei diesem Worten und sagte nur: "Aber ich von
wißte genug." Aus den Angaben hatte er sich ein Bild machen können,
wo der Elfenbeinschatz lag: in einem Fluß-Sumpf-Hügel-Gebiet
noch weiter flussaufwärts.
Bevor sie in das Stammesgebiet des Bantuheizers kamen, verschwand er.
Jerôme äußerte sich nicht näher dazu, eventuell hat
er ihn verschwinden lassen, bevor er etwas ausplaudern konnte. Nicht die
feine Art, jedoch hatte Jerôme schon einen Plan gefaßt, bei
dem eine gewisse Verschwiegenheit not tat und den trug er mir nun, nach
etwa vier Litern Bier und diversen Schnäpsen endlich vor, zu der Missbilligung
von Kees, wie ich merkte. Er wollte, oh surprise, nämlich nach dem
Schatz suchen. Das war mir bereits seit einiger Zeit klar geworden, jetzt
trug er aber endlich Argumente vor. Er hatte einen flämischen Tuch-Fabrikanten
gewonnen, Roderick van de Metzelde, der eine kleine Expedition ausrüsten
wollte. Wir saßen inzwischen an einem Tisch und was er mir unter
demselben an Banknoten zeigte, überzeugte mich, daß er keinen
baren Unfug erzählte. Es schien tatsächlich etwas daran zu sein.
Jerôme war von van de Metzelde hier auf die Conferenz gesandt worden,
um zwei Afrikafachleute zu treffen, die der Fabrikant kannte. Die hatten
ihn über die akute Lage im Kongo informiert und ihm bestes Kartenmaterial
verschafft. Eine Passage auf einem Schiff sei bereits gebucht, ab Oostende.
Alles Notwendige sei von ihm und van de Metzelde organisiert worden und
werde in Kürze auf das Schiff geschafft. Er sei sozusagen für
die Organisation und im Notfall auch für die Navigation zuständig
und seine beiden Freunde hier, Kees und Le Cul, verstünden genug von
Waffen, um halb Afrika das Fürchten zu lehren. Zwei Mann seien bereits
vorausgefahren, um in Boma, unweit der Kongomündung und in Leopoldville
nach dem Rechten zu sehen und eigentlich...
Ich muß zugeben, daß ich erst jetzt verstand, worauf Jerôme
herauswollte und daß nicht ich mit ihm, sondern er mit mir die ganze
Zeit gespielt hatte. Das scheint mir heute zwar etwas blauäugig, doch
hatte ich beim Trunke wacker mitgehalten (und merke es jetzt noch), was
mich halbwegs exculpieren dürfte. Kurz gesagt, er hatte mich als see-
und reisebewährten Arzt sofort als idealen noch einzuladenden Compagnon
der Truppe gesehen. Angesichts des bekannten Factum, daß das Tropenclima
dem Europäer sehr abträglich, konnte ich ihm nicht gut widersprechen.
Überhaupt sagte ich erst einmal gar nichts, worauf Jerôme,
der mich schon gäntzlich aufgehakt gesehen hatte, alles noch einmal
erzählte und betonte, ich werde meinen vollen Anteil erhalten - die
Hälfte für van de Metzelde, der Rest ginge durch sechs. Die Kosten
für die Mannschaft trüge complett der Fabrikant. Man würde
notfalls auch ohne Arzt fahren, ich müsse mich deshalb rasch entscheiden.
An ihren Reaktionen war mir klar, daß Jerôme und Le Cul
nicht ohne Arzt fahren wollten; Kees hingegen sah lediglich seinen Anteil
am Schatz kleiner werden. Ich brachte schließlich hervor, ich könne
mich so schnell nicht entscheiden. Jerôme räumte Verständnis
ein, doch sei der Aufbruch ab Oostende in zwei Wochen geplant, mehr als
24 Stunden könne er mir deshalb nicht geben.
Und das wars. Der Wirth hatte ohnehin schon begonnen, seinen Laden
aufzuräumen, wir waren die letzten Gäste, ich verabschiedete
mich und ging heim.
Jetzt ist es gegen drei Uhr am Nachmittag und das Schreiben hat meinen
Kopf nicht klarer gemacht. Soll ich mit oder nicht?
17.15 Uhr
Starken Kaffee gemacht, noch einmal nachgedacht. Gedanken kreisen weiter.
Was hält mich eigentlich hier? Brunshagen ist ein Idiot und Leichen
habe ich inzwischen mehr als genug gesehen, wenn ich weiter daran herumschneide,
werde ich noch wie er. Paula hat mir mit ihrer Zickigkeit und ihrem Wankelmut
jetzt oft genug den Nerv gezogen. Was habe ich davon, wenn sie es sich
noch einmal anders überlegt? Es gibt doch nur wieder dasselbe Theater.
Und falls es mich überkommt, sind die Negerinnen sicher williger als
dieses capriziöse Geschöpf.
19:00
Spazieren gegangen. Warum eigentlich nicht? War ich überhaupt
jemals glücklich seit meiner Rückkehr nach Berlin? |